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Architektonische Antworten der AnthroposophieL3

Poetische Architektur
      - Exkurs Sinnenwelt aus anthroposophischer Sicht

Gebäude und Außenraum

Erschließung und Bereichsbildung

Grundriß: Modulation als Orientierungsfaktor

Anordnung der Räume

Zimmer

Therapeutische Architektur?
     Oberflächengestaltung - Farbgestaltung - Lichtführung

Inhalt

Poetische Architektur

Anthroposophische Architektur gehört zur Gruppe der organischen Architektur. Nicht vordergründig Naturnachahmung, sondern das Entwerfen von gebauten Organismen ist das Ziel. Die Ähnlichkeit mit natürlichen Formen liegt in den gemeinsamen Gestaltkräften begründet: Organische Architektur "wächst" nach den Gesetzen der Natur.

Anthroposophische Architektur versucht, dieses Entwurfsprinzip auf die Grundlage geistiger Erkenntnis zu stellen. Dadurch entsteht ein Ganzes, daß über die Einzelkomponenten hinaus Bezüge und Wirkungen enthält, die nur in der Anschauung erlebt werden können. Viele dieser Inhalte sind nicht unmittelbar dem Intellekt zugänglich, sie vermitteln sich der Seele: die Architektur wird poetisch.

Speziell für alte Menschen ist ein Ausdruck von Einfachheit und Friedfertigkeit wichtig im Gegensatz zum im tätigen Leben stehenden Menschen, der eine kraftvoll-dynamische Umgebung braucht. L17

Exkurs Sinnenwelt aus anthroposophischer Sicht

Die anthroposophische Sinnlehre kennt 12 Sinne. Diese Sinne dürfen nicht mit den Sinnesorganen verwechselt werden, sie bedienen sich nur der Organe.

Hier sollen nur die Sinne behandelt werden, die im Sehfeld, der Summe unserer optischen Sinneseindrücke, tätig werden. Nach anthroposophischer Lehre ist der Sehsinn für die Wahrnehmung von Helligkeit und Farbe, die unmittelbaren physikalischen Wirkungen, zuständig, der Gestaltsinn erfaßt aus den physikalischen Informationen die Formen im Raum und damit auch Tiefe und der Denksinn schließlich kann diesen Formen Bedeutung zuordnen, sie im eigentlichen Sinne wahrnehmen. Gestaltsinn und Denksinn werden auch in anderen Erfahrungsfeldern tätig wie z.B. Tastfeld und Hörfeld (Geräusche - Laute - Information). L11
 
• Der Denksinn erfaßt die Bedeutung
• Der Gestaltsinn erfaßt die Konturen
• Der Sehsinn erfaßt die Farbe und Helligkeit

Diese Sicht wird durch die moderne Wahrnehmungsforschung zumindest phänomenologisch unterstützt. Die Formwahrnehmung erfolgt demnach hauptsächlich über die Konturen, nicht über Flächen, diese Form der Orientierung funktioniert primärer und einfacher. Orientierung über Bedeutungsinhalte ist mit größerer Denkarbeit verbunden. L10

Gebäude und Außenraum

 
Am Beispiel des Hermann-Keiner-Hauses, Dortmund zeigt sich der Umgang mit dem Außenraum. Für das Haus wurde ein gespiegelter Y-Grundriß verwendet, so daß sich das Gebäude gleichsam mit dem Außenraum verzahnt. Es schließt die vorgelagerten Bereiche mit ein, erklärt sie sich zugehörig und läßt so geborgene Bereiche entstehen, die einen allmählichen Übergang zum freien Außenraum ermöglichen. L17 Hermann-Keiner Haus, Dortmund

Erschließung und Bereichsbildung

Ebenso läßt sich am Hermann-Keiner-Haus der Aufbau der Erschließung sehen. Im Bereich der vertikalen Erschließungselemente, die gut belichtet sind, weiten sich die Flure auf und verengen sich, je mehr man den sternförmigen verlaufenden Ästen folgt. Die Enden sind wie Blattsprossen eingerollt, wodurch hier Seitenlicht ohne Blendung einfällt.
 
 
Im Nikolaus-Cusanus-Haus, Birkach sitzen diese "Sprossen" an einer sich schlängelnden "Wurzel". Am Endpunkt der Flure liegen die Gemeinschaftsräume des Wohnbereichs.
 
 
          Legende:
          Vorfahrt Haupteingang  1
          Gemeinschaftsräume  2
          Café  3
          Festsaal  4
          Kapelle  5
          Wohnhof  6
          Innenhof  7
          Restaurant  8
          Hauptküche  9
          Wirtschaftshof 10
Die Ausbildung dieser eingerollten Flurenden trägt insbesondere der Orientierung Verwirrter Rechnung, die durch diese Form in eine Schleife geführt werden, statt in der Sackgasse zu stehen.
(Dies wurde auch von Heimleitung angeführt)
Die Aufweitungen der Flure, die auch an anderen Stellen eingeführt wurden, bilden offene Räume, die die Übersicht verbessern und zum Verweilen einladen können, da sie trotz Transparenz etwas Sicherheit vermitteln.

Grundriß: Modulation als Orientierungsfaktor

Die Grundrißmodulationen in der anthroposophischen Architektur dienen besonders der Orientierung Verwirrter.
 
 
Gerade, parallele Raumkanten erfordern zur Tiefenwahrnehmung und der Bestimmung des eigenen Standorts Bedeutungsinhalte wie Perspektive, Größenverhältnis oder die "innere Landkarte".
Ähnlich verhält es sich mit gleichmäßig gekrümmten Kanten, die Flächen sind seitlich nicht begrenzt. Verwirrte sind durch ihren Rückzug aus der Realität zunehmend nicht in der Lage diese Inhalte richtig oder überhaupt zu erfassen; erst recht fällt es ihnen schwer, die Inhalte in den richtigen Bezug zu setzen.
Daher wird die Standortbestimmung und damit die Orientierung schwer, wenn nicht unmöglich. Kommen noch zusätzliche Faktoren hinzu, die die Oberflächen-Wahrnehmung erschweren, wie spiegelnde Böden oder Gegenlicht, bricht die Orientierung vollständig zusammen.
Gefaltete Wände und z.B. durch Unterzüge strukturierte Decken bieten dem Gestaltsinn, der am längsten "richtige" Ergebnisse liefert L7, ausreichend Konturen im Wahrnehmungsbereich, um den umgebenden Raum zu erfassen.

Anordnung der Räume

Das Cluster-Prinzip findet sich entsprechend dem organischen Ansatz im Haus Morgenstern und Nikolaus-Cusanus-Haus wieder. Es entstehen einzeln begreifbare Untereinheiten, eine gestufte Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird so ermöglicht.

Zimmer

 
Die Zimmer im Haus Morgenstern zeigen durch ihre Grundrißmodulation eine ausgeprägte Bereichsbildung. Ein eher nach außen orientierter, heller Fensterplatz und eine geschützte Rückzugsecke entstehen. Ist die Tür wie im Beispiel angeordnet, ergibt sich für den Eintretenden durch die Blickachse zum Fenster ein größerer Raumeindruck. Die stumpfen Winkel schließen das Zimmer stärker als ein rechteckig angelegtes und schaffen damit mehr Geborgenheit.

Therapeutische Architektur?

Im Alter erfolgt ein allmählich Rückzug aus der Sinneswelt. Der alte Mensch oder seine Begleitung muß versuchen, die Sinne im Seelischen zu erhalten, um den Menschen nicht verhärten und abstumpfen zu lassen. Dazu sollten die Umweltbedingungen ein harmonisches Ganzes bilden.L7

Oberflächengestaltung
Die Materialien müssen begreifbar bleiben. Die Tasterfahrung muß mit dem Sehfeld harmonierenL7, d.h. Putzoberflächen und Holz werden nur lasierend behandelt, Metalle möglichst nur verzinkt o.ä.

Farbgestaltung
 
Saal des Goetheanum/Dornach CH Farbe induziert Stimmungen, sie spricht das Seelische im Menschen an. Zur Erhaltung der seelischen Harmonie wird angestrebt, harmonische Farbstellungen zu verwenden unter Zugrundelegung der Goetheschen Farbenlehre. L1, L11
12-Farben-Kreis

 
Im Haus Morgenstern zeigt sich in den Fluren die Zusammenstellung eines kühlen Mittel-Blau am Boden (Erfahrungswelt kühler Erdboden), helles Pastellblau an den Fensterrahmen als Übergang zu den Lichtfarben von draußen und warme lasierende Gelb bis Purpur-Töne an den Wänden, um dem ganzen die nötige Ausstrahlung von Geborgenheit zu geben und die Komposition abzurunden. Die Decke wird ohne Farbe hell gehalten (Erfahrungswelt Helligkeitsstufung). Flur DG
Die vertikalen Erschließungselemente sind in kühlem Türkis gehalten, um den Übergang nach draußen zu signalisieren. Treppenhaus
Im Außenbereich ist der Schattenwurf der Seitenwände der Balkone im Übergang von Dunkelgelb zu Rotbraun aufgenommen, ebenfalls um etwas mehr Geborgenheit zu schaffen. Straßenfront

 
Im Nikolaus-Cusanus-Haus ist die Farbgestaltung zurückhaltender. Sehr dezente Tönungen in warmem Gelb und Rot akzentuieren einzelne Bereiche und dienen in den Fluren hauptsächlich der Unterstützung der Grundrißmodulation. Der Boden ist auch hier in Mittelblau gehalten.
Im Außenbereich wird die Untergliederung des Baukörpers durch Akzentuierung der zurückspringenden Bereiche unterstützt.
Lichtführung
 
Auch Licht induziert Stimmung, es spricht im anthroposophischen Sinne mehr das Geistige im Menschen an. Auch hier ist eine harmonische Gestaltung wichtig. Im Haus Morgenstern bewirkt die Lichtführung eine Zonierung der Flurbereiche und der Aufenthaltsräume. Ruhiges indirektes Licht, fällt in die Innenhöfe und damit die Flure, akzentuiertes und belebendes Licht fällt in die Aufenthaltsbereiche, die Kreuzungszone ist eine angenehm dunklere Zone als Durchtritt zwischen den 2 Bereichen und als Beobachtungsposten.
Im Nikolaus-Cusanus-Haus vermittelt der zentrale hell erleuchtete Innenhof eine angenehme Außen-Atmosphäre. Die Flure zu den Wohnbereichen versperren sich zunächst durch dunkle Durchgänge, öffnen sich dann aber wieder zu hellen Aufenthaltsräumen. Dazwischen führt Seitenlicht den Blick nach draußen und vermittelt stellenweise Laubengangcharakter. Diese Lichtstimmungen verstärken die Eigenständigkeit der einzelnen Wohnungen und Wohnbereiche und ermöglichen dadurch wiederum die Stufung des Übergangs ins Private.